Grundformen der Angst

Das Buch „Grundformen der Angst: Eine tiefenpsychologische Studie“ von Fritz Riemann erschien 1961 und ist bis heute ein Standardwerk in der Psychologie.

Angst gehört zum Leben dazu. Ein Leben ohne Angst gibt es nicht.
Angst ist nicht gleich Angst.
Angst ist ein Warnsignal. Angst kann Kräfte in uns mobilisieren, die nötig sind, um Herausforderungen oder Bedrohungen effektiv zu meistern.
Angst kann lähmen, ohnmächtig machen und einen Menschen in der Hilflosigkeit stecken bleiben lassen.

Das Annehmen und Überwinden von Angst ist Teil menschlicher Entwicklung. Ausweichen vor Angst bzw. Vermeiden von Angst verursacht Stagnation und steht persönlichem Wachstum und Reifung im Weg.
Angst aus dem Leben vollständig zu eliminieren, ist nicht möglich.
Es ist aber möglich, ein Bewusstsein für zugrundeliegende Strukturen von Angst zu entwickeln. Es ist möglich, einen bewussteren Umgang mit Angst zu erlernen, um dafür zu sorgen, dass Angst nicht länger der bestimmende Faktor im Leben ist, dem sich alles andere unterordnen muss.

In seinem Buch schreibt Fritz Rieman „Vom Wesen der Angst und den Antinomien des Lebens“.
Rieman geht dabei von vier Impulsen aus: Rotation und Revolution, Zentripetale und Zentrifugale.
Rotation beschreibt die Drehung um die eigene Achse. Psychologisch gesehen entspricht das der Entwicklung hin zur Individuation.
Revolution beschreibt die Drehung um einen zentralen Punkt. Gemeint ist damit die Einordnung in ein größeres Ganzes.
Zentripetale beschreibt die Schwerkraft. Hiermit ist psychisch der Impuls nach Dauer und Beständigkeit gemeint.
Zentrifugale beschreibt die Fliehkraft. Dieser Impuls entspricht einem Vorwärtsstreben hin zu Veränderung und Wandel.

Rieman leitet hieraus vier Forderungen ab:

  1. Ein einmaliges Individuum werden, das das Eigensein bejaht, sich gegen andere abgrenzt, eine unverwechselbare Persönlichkeit entwickelt (Rotation).
  2. Sich der Welt, dem Leben und den Mitmenschen vertrauensvoll öffnen, sich einlassen mit dem Fremden und in den Austausch gehen (Revolution).
  3. Dauer anstreben, Zukunft planen, als wäre die Welt stabil und die Zukunft vorhersehbar (Zentripetale).
  4. Bereitschaft zum Wandel, Veränderungen begrüßen, Vertrautes aufgeben, sich immer wieder von Erreichtem lösen (Zentrifugale).

Nach Rieman ergeben sich daraus die vier Grundformen der Angst:

  1. Die Angst vor der Selbsthingabe, als Ich-Verlust und Abhängigkeit erlebt.
  2. Die Angst vor der Selbstwerdung, als Ungeborgenheit und Isolierung erlebt.
  3. Die Angst vor der Wandlung, als Vergänglichkeit und Unsicherheit erlebt.
  4. Die Angst vor der Notwendigkeit, als Endgültigkeit und Unfreiheit erlebt.

Angst vor der Selbsthingabe
Der Grundimpuls „ein einmaliges Individuum mit einer unverwechselbaren Persönlichkeit werden“ (Rotation) strebt nach Unabhängigkeit. Steht dieser Impuls dauerhaft im Vordergrund baut ein Mensch große Distanz zu anderen auf und fühlt sich bedroht, wenn ihm jemand nahe kommt.
Die Grundüberzeugung lautet: Ich brauche niemanden.

Angst vor der Selbstwerdung
Der Grundimpuls „sich der Welt, dem Leben und den Mitmenschen vertrauensvoll zu öffnen und Teil eines größeren Ganzen zu werden“ (Revolution) strebt nach Kontakt zu anderen. Ist der Wunsch nach vertrauter Nähe, nach lieben und geliebt werden, übermächtig, wird Getrenntsein von einer wichtigen Bezugsperson als bedrohlich erlebt. Konflikte in zwischenmenschlichen Beziehungen können starke Verlustangst auslösen.
Die Grundüberzeugung lautet: Ohne den anderen kann ich nicht sein.

Angst vor der Wandlung
Der Grundimpuls „Dauer und Beständigkeit anstreben, Zukunft planen, als wäre die Welt stabil und die Zukunft vorhersehbar“ (Zentripetale) sucht das immer Gleiche, das Vertraute, das Berechenbare. Veränderungen erinnern an Vergänglichkeit und bedrohen die Sicherheit des Altbekannten. Zwanghaftes Festhalten an Gewohntem ist die Folge.
Die Grundüberzeugung lautet: Veränderung bedeutet Gefahr.

Angst vor der Notwendigkeit
Der Grundimpuls „Bereitschaft zum Wandel, Veränderungen begrüßen“ (Zentrifugale) beinhaltet die Freude am Wagnis und strebt nach neuen Eindrücken und Erfahrungen. Äußere Grenzen schränken den Drang nach Freiheit ein. Können Wünsche nicht sofort befriedigt werden, kann das als unzulässige Einengung erlebt werden. Folgen von Handlungen werden ignoriert.
Die Grundüberzeugung lautet: Grenzen des Lebens gelten für mich nicht.

Individuum vs. Gemeinschaft – Freiheit vs. Grenzen
In diesem Spannungsfeld zwischen Selbsthingabe und Selbstwerdung, zwischen Wandlung und Notwendigkeit steht jeder Mensch jeden Tag. Bestenfalls bewegt sich ein Mensch zwischen diesen Polen auf eine Weise, die bestmögliche Anpassung an die jeweilige Situation erlaubt mit dem Ziel größtmöglicher persönlicher Weiterentwicklung.

Jeder Organismus strebt nach Balance.
Balance ist nicht der fixe Mittelpunkt zwischen entgegengesetzt wirkenden Kräften. Balance ist eine flexible und ausgleichend wirkende Hin-und-Her-Bewegung zwischen verschiedenen Richtungen.

Die Welt setzt Grenzen. Anpassung an Ordnungen ist (lebens-) wichtig.
Beständigkeit gibt Sicherheit.
Veränderung ist Wachstum.
Sich von anderen unterscheiden.
Sich zugehörig zu anderen fühlen.

Der „Spagat“ zwischen Erfüllung von Bedürfnissen nach Sicherheit und Stabilität, nach Freiheit und Unabhängigkeit, nach Einzigartigkeit und nach Gemeinschaft, nach Wandlung und nach Akzeptanz unveränderlicher Begrenzungen erfordert unablässig eine enorme Anpassungsleistung.

Problematisch wird es, wenn ein Mensch überwiegend oder dauerhaft an einem der Pole „klebt“ oder von einem Pol zum anderen „springt“. Steht einer der Impulse übermäßig im Vordergrund geht das einher mit der Entwicklung einer Grundangst den „gegenüberliegenden“ Pol betreffend. Damit wird das „Gegenüber“, die dazugehörige andere „Seite der Medaille“ vermieden. So entsteht ein Ungleichgewicht, das zu Einschränkungen und inneren Begrenzungen führt. Das Wachstum eigener Stärken und Fähigkeiten wird behindert.

Abgrenzung von anderen im Übermaß macht einsam.
Ich-Aufgabe macht abhängig.
Eisernes Beharren auf Bestehendem führt in die Erstarrung.
Illusionäre Erwartungshaltung mit Forderung nach sofortiger Wunscherfüllung erzeugt unablässig schmerzhafte Enttäuschungen.

Jeder dieser vier Impulse ist wichtig. Das Eine geht nicht ohne das Andere.
Für die Reifung zu einer vollständigen Persönlichkeit ist es notwendig, ein fließendes Gleichgewicht dieser inneren Kräfte herzustellen. Besteht ein Ungleichgewicht, das zu erheblichen Einschränkungen im Leben führt, kann in der geschützten Atmosphäre einer Psychotherapie an der Veränderung innerer Begrenzungen gearbeitet werden.

Gestalttherapie sieht Angst als Hemmung von Impulsen, für die es lebensgeschichtliche Ursachen gibt. Bewusste Wahrnehmung von Impulsen und inneren Hemmnissen und Verstehen des biografischen Kontexts, in dem Grundängste entstanden sind, macht den Weg frei für die Entfaltung der Persönlichkeit.

Angst ist ein „Hemmschuh“, der lebendige Impulse stoppt.
In der Lebensgeschichte eines Menschen kann es übermäßig belastende Ereignisse gegeben haben, die die Hemmung von Impulsen und deren Ausdruck notwendig machte.
Ein Kind, das in einer Umgebung aufwuchs, die die Entstehung von Urvertrauen wenig oder gar nicht förderte, kann die Welt als einen unfreundlichen Ort erleben. Ein solches Kind wird den besten Weg wählen, den es kann, seiner destruktiven Umwelt zu begegnen, indem es jeweils den Impuls unterdrückt, der weniger zur Bedürfnisbefriedigung geeignet ist bzw. dessen Unterdrückung schlimmere Folgen vermeiden hilft. Insofern sorgte einst der „Hemmschuh Angst“ davor, sich vor unangenehmen oder bedrohlichen Reaktionen naher Bezugspersonen zu schützen.

Angst ist ein „Gegner“, den man zu einem „Verbündeten“ machen kann.
Denn hinter der Angst stecken „gebundene“ innere Kräfte, Kreativität und Lebendigkeit.
Gelingt es, die Angst als „Richtungsanzeiger“ zu betrachten, der den Weg weist hin zu mehr innerer Freiheit und Selbstbestimmung, können mit guter therapeutischer Unterstützung innere Kräfte mobilisiert werden, die bei der Verwirklichung der in uns vorhandenen Potentiale helfen.

Als einzigartiges Individuum vertraute Nähe zu anderen zulassen.
Freiheit in der Begrenzung durch die Welt finden.
Dann geht es nicht mehr um ein ENTWEDER-ODER, sondern um ein SOWOHL-ALS-AUCH.